Der menschliche Körper bleibt nur dann stabil, wenn überall das richtige Maß an Spannung herrscht – ein Zusammenspiel aus mechanischer Last und Nachgiebigkeit. Dieses Prinzip der Tensegrity beschreibt, wie Muskeln, Sehnen und Faszien gezielt Spannung übertragen und so unsere Struktur aufrecht halten. Ohne dieses Gleichgewicht würden wir sofort kollabieren. Ein klassisches Beispiel ist das Sitzen: Muskeln im unteren Rücken und die Hüftbeuger verspannen, der Brustkorb verhärtet, die für die Atmung notwendige Beweglichkeit geht verloren. Die Hüften werden unbeweglich, Gelenke wie die Lendenwirbelsäule müssen kompensieren. Auch im Fitnessstudio zeigt sich dieses Prinzip: Bei Kniebeugen gibt es nicht „die eine richtige Technik“. Zu viel Steifigkeit und starre Symmetrie verhindern Anpassungsfähigkeit – und diese ist im echten Leben entscheidend (Scarr, Blyum, Levin, & de Solórzano, 2025).
Damit Gewebe Belastungen aushalten kann, braucht es Kapazität. Sie wird durch Kraft, Lebensstil und Belastungsverteilung bestimmt. Repetitive Muster, etwa viele Kniebeugen hintereinander, beanspruchen immer dieselben Strukturen. Fehlen Variabilität und Bewegungsoptionen, steigt das Risiko für Überlastungen. Ziel sollte es daher sein, möglichst viele Wege zu entwickeln, Kräfte zu erzeugen und zu kontrollieren. Dabei ist es ebenso wichtig, überhaupt genügend zu trainieren – der Körper braucht Reize, von denen er sich erholen kann. Mobility-Training und Recovery dürfen nicht zur Ausrede für Fragilität werden. Ein sinnvoller Cool-Down umfasst einfache Methoden: bewusste Atemzyklen, isometrische Haltearbeit zur Integration von Rippen und Becken sowie das Nutzen der erhöhten Gewebetemperatur für Beweglichkeit und Regeneration (Baida et al., 2022).
Verletzungen entstehen selten zufällig. Ursachen sind häufig eine zu schnelle oder zu hohe Belastungssteigerung, chronisches Sitzen, fehlerhafte Biomechanik oder akute Maßnahmen der Sportmedizin. Auch genetische Faktoren spielen eine Rolle. Verletzungen lassen sich in Weichteilschäden, Frakturen, Sehnen- und Bänderverletzungen oder Zerrungen einteilen. Der Heilungsprozess verläuft immer über Entzündung, Resolution und Remodeling. Doch gerade in dieser Zeit treten Probleme wie Muskelatrophie, reduzierte Proteinsynthese, verstärkte Proteolyse und Kraftverlust auf. Jede Verletzung erhöht den Bedarf an Glukose und Aminosäuren – ein kataboler Zustand entsteht.
Rund um Training existieren viele Mythen. Ein Beispiel: Hochintensives Training sei der Schlüssel zum Fettabbau. Tatsächlich steigt bei Ermüdung das Verletzungsrisiko, weshalb Low-Intensity-Cardio langfristig oft sinnvoller ist. Eine Ausnahme bildet das Sprinten: Durch massive Muskelrekrutierung wird der Grundumsatz erhöht.
Gewebe reagiert spezifisch auf Belastung – ein Prozess, der als Mechanotransduktion bezeichnet wird. Druck, Zug, Torsion oder Scherkräfte wirken nie gleichmäßig. Entscheidend sind Größe, Richtung, Dauer, Häufigkeit, Geschwindigkeit und Variabilität der Last. Jeder Belastungsfall verursacht eine einzigartige zelluläre Reaktion. Sauerstoff und Nährstoffe gelangen vor allem in jene Muskeln, die aktiv beansprucht werden. Steht kräftiges Gewebe direkt neben schwachem, entstehen Überlastungsprobleme – ähnlich wie beim Orca-Flossen-Syndrom in der Natur (Ingber, 2023).
Chronische Positionen wie langes Sitzen oder Immobilisation nach Verletzungen führen zu krankhaften Anpassungen: Muskelmasse und Durchblutung nehmen ab, sensorische Rückmeldungen verschwinden, Muskeln verkleben. Die Umwelt prägt unsere Anpassungen stärker, als Gene es tun – ganz nach dem Motto: „Die Gene laden das Gewehr, die Umwelt drückt den Abzug.“ Muskelkrämpfe wiederum entstehen häufig durch veränderte Sensitivität der Reflexschleifen zwischen Muskel, Sehne und Rückenmark und treten besonders bei Ermüdung auf.
Ein reduktionistisches Denken – den Körper in Einzelteile zu zerlegen – bringt uns hier nicht weiter. Bewegung ist mehr als Anatomie. Das Gehirn arbeitet in Sequenzen, erkennt Muster und braucht zu jeder Bewegung Stabilität, Gleichgewicht, Koordination und Wahrnehmung. Was wie Schwäche aussieht, kann Schutzspannung sein; was wie schlechte Technik wirkt, kann ein Notbehelf für ein anderes Problem sein. Mobilität ist die Grundlage, um Kontrolle und Motorik wiederzuerlangen. Erst eine verbesserte Bewegungsreichweite ermöglicht ökonomische und kontrollierte Bewegung (Musfeld, Dutli, Oberauer, & Bartsch, 2024).
Korrektives Training sollte dabei neue sensorische Impulse setzen, anstatt nur Symptome zu kaschieren. Selbstlimitierende Übungen wie Barfußlaufen fördern Achtsamkeit und Anpassungsfähigkeit. Wichtig ist, dass Bewegung nicht Perfektion, sondern Lernen bedeutet – jede Wiederholung ist ein neuer Reiz. Krafttraining ersetzt dabei nicht die Bewegungskontrolle, sondern ergänzt sie.
Mobilisationstechniken senken den Muskeltonus und verbessern das Zusammenspiel von Gelenken, Sehnen und Muskeln. Die Wirbelsäule spielt als zentrale Achse eine Schlüsselrolle: Nur wenn sie neutral bleibt und Drehmomente richtig genutzt werden, kann Kraft effizient übertragen werden. Schlechte Haltung beeinflusst nicht nur die Bewegung, sondern auch Atmung und Nervensystem. Praktische Tests wie der Tony-Blauer-Test oder einfache Spannungsprüfungen helfen, Defizite sichtbar zu machen.
Bewegung und Koordination stehen immer am Anfang. Mobilität ohne Kontrolle ist wertlos – und Hypermobilität sogar riskant. Erst die Verbindung aus Gelenkmechanik, Gewebegleitfähigkeit, Muskeldynamik und Kapselgesundheit schafft eine stabile Basis. Dabei gilt: Jede Bewegung ist Teil einer Kette. Einschränkungen können weit entfernt vom eigentlichen Problem liegen, ganz nach dem „Matryoshka-Prinzip“: Nur die Summe aller Teile ergibt eine funktionierende Bewegung.
Fazit
Der Körper ist ein dynamisches System, das durch Spannung, Belastung und Anpassung im Gleichgewicht bleibt. Fehlhaltungen, einseitige Belastungen oder mangelnde Bewegung bringen dieses System ins Wanken und erhöhen das Verletzungsrisiko. Entscheidend sind nicht starre Regeln oder isolierte Trainingsmethoden, sondern Variabilität, Kontrolle und die Fähigkeit, Kräfte effizient aufzunehmen und weiterzugeben. Wer Mobilität, Stabilität und sensorische Kontrolle gleichermaßen entwickelt, schafft die Grundlage für gesunde, anpassungsfähige Bewegung – ein Leben lang.
Vielen Dank fürs dranbleiben :) - im Januar geht es weiter mit der Blogserie Recovery
Niklas Fricke ist Personal Trainer und Experte für Kniegesundheit mit Fokus auf schmerzfreie Leistungsfähigkeit. Er unterstützt sportlich aktive Menschen in Hamburg dabei, Verletzungen vorzubeugen und ihre Knie langfristig stark zu halten. Mit Qualifikationen als Pain-Free Knee Performance Specialist, Medical Fitness-Coach und Precision Nutrition Coach verbindet Niklas fundiertes Wissen mit praktischer Erfahrung. Seine eigene Geschichte mit Knieproblemen motiviert ihn, individuelle und nachhaltige Trainingslösungen zu entwickeln. Niklas ist außerdem Gastgeber des KneeVit Podcasts, in dem er kompakte, praxisnahe Tipps für junge Sportler teilt.
Ingber, D. E. (2023). From tensegrity to human organs-on-chips: implications for mechanobiology and mechanotherapeutics. Biochemical Journal, 480(4), 243–257. https://doi.org/10.1042/BCJ20220303
Scarr, G., Blyum, L., Levin, S. M., & de Solórzano, S. L. (2025). Biotensegrity is the super-stability hypothesis for biology. BioSystems, 10(10), Article 23259671221125159. https://doi.org/10.1016/j.biosystems.2025.105569
Baida, S., King, E., Gore, S., Richter, C., Franklyn-Miller, A., & Moran, K. (2022). Movement variability and loading characteristics in athletes with athletic groin pain: Changes after successful return to play and compared with uninjured athletes. Orthopaedic Journal of Sports Medicine, 10(10), Article 23259671221125159. https://doi.org/10.1177/23259671221125159
Musfeld, P., Dutli, J., Oberauer, K., & Bartsch, L. M. (2024). Grouping in working memory guides chunk formation in long-term memory: Evidence from the Hebb effect. Cognition, 248, 105795. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2024.105795